Typische Anzeichen, Erscheinungsformen bzw. Symptome einer LRS bzw. Lese-Rechtschreibschwäche erkennt man daran, dass dem Schüler im Schreiben und Lesen von Wörtern bzw. Sätzen viele Fehler unterlaufen, eine niedrige Lesegeschwindigkeit und Schreibgeschwindigkeit und als Folge davon ein oft nur rudimentäres Leseverständnis zu beobachten ist. Heute weiß man, dass Annahmen, es gäbe „legasthenietypische“ bzw. lese- und rechtschreibspezifische Fehler, als wissenschaftlich widerlegt gelten, da betroffenen Kindern die gleichen Fehler unterlaufen, wie allen anderen Kindern auch, nur in viel größerer Anzahl und über einen wesentlich längeren Zeitraum (Vgl. Scheerer-Neumann 2015, S. 78).
Vor der Skizzierung der eigentlichen Symptome sei auf unseren Blog-Artikel verwiesen, in dem wir eine Abgrenzung der Begriffe Lese-Rechtschreibstörung, Lese-Rechtschreibschwäche, LRS, Schriftspracherwerbsstörungen und Legasthenie vornehmen.
Erik B., Schüler Anfang Klasse vier mit massiven Problemen beim Lesen und Schreiben, geht seit circa einem Jahr zur Nachhilfe in Siegen, doch seine Noten in Deutsch und Sachunterricht werden immer schlechter, anstatt besser. Das Nachhilfeinstitut weiß auch keinen Rat (klar, denn Nachhilfe ist im Gegensatz zur Lerntherapie gerade in Eriks Fall völlig ungeeignet) und Eriks Klassenlehrerin spricht seit Ende Klasse eins …von einer unbedenklichen Entwicklungsverzögerung, die sich sicher mit der Zeit geben würde…bald steht die Empfehlung für eine weiterführende Schule an, doch Erik wird die Klasse wiederholen…
Als Lerntherapeuten stellen wir leider oftmals fest, dass Kinder meistens viel zu spät zur Durchführung eines LRS-Tests angemeldet werden, also in einer lerntherapeutischen Praxis, beim Kinderarzt oder -klinik oder bei der Schulberatungsstelle der Stadt Siegen. Selbst der Beschluss der Kultusministerkonferenz von 2007 macht auf ein frühzeitiges Feststellens von möglichen Lernstörungen bzw. Lernschwierigkeiten – und dies bereits in Klasse 1 – aufmerksam (Vgl. KMK-Beschluss 2007).
Für das bessere Verständnis und der Übersichtlichkeit halber werden im Weiteren mögliche Symptome bzw. Anhaltspunkte der Lese-Rechtschreibstörung getrennt voneinander beschrieben und dargestellt. Nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen kann man durchaus zwischen einer (isoliert auftretenden) Lesestörung und einer (isolierten) Rechtschreibstörung unterschieden, glaubt man den Veröffentlichungen verschiedener Fachgesellschaften unter Federführung der DGKJP im Rahmen der S3 LRS-Leitlinie (Vgl. DGKJP 2015).
Im Allgemeinen definieren wir die Lese-Rechtschreibstörung als Lernstörung, die sich durch Schwierigkeiten bei der direkten und indirekten Worterkennung bzw. einer defizitären direkten/indirekten Lesestrategie sowie dem fehlerhaften Wörterschreiben beschreiben lässt (Vgl. Mayer 2016, S. 45).
Anzeichen Leseschwäche bzw. Auffälligkeiten beim Lesen
Ganz global können wir in quantitativer Hinsicht und als Leitsymptom aller leseschwachen Kinder eine verlangsamte basale Wortlesegeschwindigkeit feststellen, die sich auf eine mangelhafte automatisierter Worterkennung zurückzuführen lässt (Vgl. Mayer 2016, S. 49). Was bedeutet das genau: Nur wer in der Lage ist, ein beliebiges zu lesendes Wort als Ganzes blitzschnell zu erkennen, kann einen ganzen Satz deutlich schneller lesen (und somit auch inhaltlich schneller und gesamthaft erfassen) als jemand, für den einzelne Wörter lediglich „unvertraute Buchstabenfolgen“ darstellen! Im letztgenannten Fall müssen Leseanfänger dann erst mühsam und aufwändig Buchstabe für Buchstabe zu einem ganzen Wort zusammenzuziehen, was dann wiederum den stark verlangsamte Prozess der Lesegeschwindigkeit erklärt.
Ziel des Leseprozesses ist es, möglichst viele Wörter eines Satzes direkt – und damit automatisiert und schnell – zu erkennen (lexikalischer Abruf aus dem mentalen Lexikon), um sich besser auf den Inhalt der Sätze und die Sinnerfassung eines ganzen Textes konzentrieren zu können, anstatt seine volle Aufmerksamkeit nur mit der Umwandlung einzelner Buchstaben in Worte zu fokussieren (sublexikalischer Lese-Route) und somit gleichzeitig sein Arbeitsgedächtnis für sinnentnehmendes Lesen zu blockieren (Vgl. Scheerer-Neumann 2015, S. 77).
Doch bevor man ganze Wörter gesamthaft und direkt erkennen kann, erlernen die meisten Leseanfänger heutzutage im Erstleseunterricht eine einzellautorientierte Lesetechnik auf Buchstabenebene als quasi Teilprozess der Worterkennung, mit Hilfe derer der Grundschüler jeden einzelnen Buchstaben und den dazugehörigen Laut von links nach rechts aneinanderreiht (phonologisches Rekodieren) und als Ergebnis sozusagen eine „phonologische Rohform“ bzw. einen lautsprachlichen Code subjektiv erstellt (Vgl. ähnlich bei Mayer 2016, S. 27).
Gerade in der Anfangsphase des Lesenlernens ist es ein Charakteristikum leseschwacher Kinder, ein künstlich zusammengesetztes (synthetisiertes) Wortform durch eine schrittweise Überführung der Buchstabenkette in eine Lautkette zu bilden, die jedoch mit der echten bzw. natürlichen Aussprache des Wortes oft nicht korrespondiert – in diesem Fall ist das „Lautgebilde“ bzw. „Nicht-Wort“ weder für den Zuhörer noch für den Leser selbst verstehbar und fremd ((Vgl. Mayer 2016, S. 27).
In der Praxis stellen wir in diesem Zusammenhang oft fest, dass diese Kinder einen sehr „abgehackten“ bzw. stockenden Lese-Stil einzelner Wörter zeigen; so lautieren sie V – a – s – e anstatt Vase; sie beherrschen zwar in den meisten Fällen die korrekte Artikulation einzelner Buchstaben, reihen diese aber quasi isoliert aneinander, anstatt sie koartikulatorsch zu verschmelzen. Anders ausgedrückt: Dies äußert sich in Form eines permanenten Unterbrechens des Lese- bzw. Artikulationsflusses innerhalb eines Wortes, so dass „ein einziges Schallereignis mit fließen Übergängen“ nicht zustande kommt (Vgl. Mayer 2016, S. 29).
Probleme bereits auf Buchstabeneben
Erkennbare Probleme gibt es jedoch nicht nur beim basalen Lesen (= Wortlesen) lautgetreuen Wortmaterials, sondern bereits beim einfachen Buchstabenlernen als quasi Vorstufe jeden Wortlesens. Hierbei muss der Grundschüler zunächst einmal jeden einzelnen Buchstaben (= Graphem) des Alphabets visuell identifizieren, den entsprechenden Namen (ABCD usw.) und die jeweiligen Lautwerte des Buchstaben erlernen. Dies ist ein komplexer Vorgang, denn es kann durchaus vorkommen, dass ein und derselbe Buchstabe phonetisch unterschiedlich ausgesprochen wird (z. B. bei Ente und Erde oder Vogel und Vase) (Ähnlich bei Mayer 2016, S. 20). Viele leseschwache Kinder benötigen deutlich länger, um eine solide Kenntnis der Buchstaben-Laut-Zuordnungsregeln als „conditio sine qua non“ und Vorstufe des phonologischen Rekodierens einzelner Wörter aufzubauen (Vgl. Schründer-Lenzen 2013, S. 46).
Das in diesem Zusammenhang oft genannte Einschleichen falscher Buchstaben/Laute auf Wortebene, Unterscheidungsprobleme bei spiegelbildlichen Buchstaben („b“ versus „d“ oder „m“ versus „w“ bzw. „ei“ versus „ie“), das Zusammenschleifen von Konsonantenhäufungen („sch“, „ste“ oder „ung“), ist k e i n Erkennungsmerkmal für lesebeeinträchtigte Kinder, sondern lässt sich bei vielen Kindern im Schuleingang beobachten – nur halten diese Probleme bei Leseschwachen deutlich länger an (Vgl. Scheerer-Neumann 2015, S. 79).
Bedeutsamer sind jedoch bei einem größeren Teil der LRS-Kinder Schwierigkeit im auditiven Bereich: Klangähnliche Laute von einander zu unterscheiden (Phonemdiskriminierung) wie das „b“ versus „p“ oder „g“ versus „k“ fällt diesen schwer, zusätzlich spielt hier natürlich auch die tatsächliche Aussprache eines Wortes eine Rolle, die beispielsweise aufgrund unterschiedlicher Dialektik zu solchen Problemen bei Schüler führen kann. (Vgl. Scheerer-Neumann 2015, S. 78).
Verweildauer der Probleme signifikant
Als grobe Orientierung bestätigen die meisten Längsschnittstudien, dass leseschwache Kinder bereits nach 3 Monaten einen deutlichen Rückstand zum „normalen“ Lese-Lerner in puncto Buchstabenkenntnis und beim schnellen Aktivieren der korrekten Aussprache der Buchstaben aufweisen (Vgl. Klicpera et al 2017, S. 153).
Die ebenfalls zu Beginn des Schriftspracherwerbs auftretenden Schwierigkeiten beim phonologischen Rekodieren werden in den meisten Fällen bis zum Ende der ersten Klasse überwunden und führen dann zu einer Verbesserung der Lesegenauigkeit und Reduktion von Lesefehlern (Vgl. Mayer 2016, S. 29) – zur signifikanten Verbesserung der Lesegeschwindigkeit tragen Sie jedoch nicht bei, da LRS-Kinder meistens keine umfassende Leseerfahrungen in Schule und Freizeit sammeln können (und wollen!) und somit zu wenig Wörter ganzheitlich automatisiert haben, so dass die Worterkennung weiterhin nicht direkt erfolgt und der individuelle Sichtwortschatz deshalb deutlich limitiert ist (Vgl. Klicpera et al 2017, S. 153).
In einigen Fällen und als quasi Kompensation der verlangsamten Worterkennung wenden leseschache Kinder dann häufig eine „Wortersetzungs-Strategie“ an und erfinden neue Wörter oder versuchen, Wörter einfach zu erraten, sofern sie den Kontext des Satzes bis dahin sinnentnehmend verstanden haben: „Der Lehrer nimmt ein Stück Kreide und schreibt an die …..“ (Vgl. Scheerer-Neumann 2015, S. 75).
Wir möchten jedoch an dieser Stelle explizit darauf hinwiesen, dass die genannten Lesefehler aufgrund neuerer wissenschaftlicher Forschung nicht nur typisch für Kinder mit einer Lese- und Rechtschreibstörung sind, sondern prinzipiell alle Leseanfänger anfänglich gleiche oder ähnliche Fehlermuster unterlaufen, nur dann in unterschiedlich starkem Ausmaß (Fehlerquantität statt Fehlerqualität), womit die Vertreter der damalige Legasthenie-Bewegung der 70er Jahre heutzutage als wissenschaftlich widerlegt gelten (Mayer 2015, S. 165). Unverständlich bleibt für uns in diesem Zusammenhang auch, warum die antiquierte Hypothese sogenannter „Reversionsfehler“ bis heute noch große Verbreitung in der Praxis findet – sei es bei (zumeist älteren) Lehrern als auch „alternativ-spirituell-ganzheitlich“ aufgestellten Lerntherapeuten oder dergleichen, die somit wissenschaftliche Erkenntnisse schlichtweg ignorieren (Vgl. Klicpera et al 2017, S. 153).
Abschließend: Die meisten Schulkindern verlieren die oben beschrieben Fehlermuster nach mehreren Monaten wieder, weshalb auch überhaupt kein Grund zur Sorge besteht; LRS-Kinder unterlaufen diese Fehler wesentlich häufiger und diese bleiben meist über Jahre stabil – es kommt jedoch auch vor, dass ein Wort auf ganz unterschiedliche Weise zu unterschiedlichen Zeitpunkten falsch gelesen wird (sog. Fehlerinkonstanz) (Vgl. Reuter-Liehr 2011).
Analog zu den oben beschriebenen zwei Wegen des Lesens und als Grundlage ist wichtig zu wissen, dass der Prozess des Schreibens ganz ähnlich verläuft je nachdem, ob das Wort orthographisch vertraut ist oder nicht: unbekannte Wörter werden lautgetreu, aber eventuell inkorrekt, bekannte Wörter hingegen als Ganzes und korrekt verschriftet (Vgl. Mayer 2016, S. 31).
Auffälligkeiten beim Schreiben
Ganz am Anfang des Schreibunterrichts, wenn die Symbole der deutschen Schrift eingeführt werden, kann es bereits auf Buchstabenebene zu gravierenden Problemen kommen: einige Grapheme werden sehr unleserlich und teils spiegelverkehrt geschrieben („d“ und „b“ oder eigene Buchstaben-Kreationen), Buchstaben werden manchmal falsch abgeschrieben oder aufgrund von den oben beschriebenen Problemen im auditiven Bereich fehlerhaft wahrgenommen (gehört) und dann entsprechend geschrieben (Rau“p“e bzw. „Rau“b“e oder „k“rün anstatt „g“rün). Auch die graphomotorische Umsetzung des kurz gesprochenen (ungespannten) Lautes „i“, der sich auch nach „ö“ oder „ü“ anhören kann, gelingt oft nicht („Dürk“ statt „Dirk“) (Vgl. Costard 2011, S. 127).
Auf Wortebene und bei dem Versuch, ein gehörtes Wort lautgetreu zu verschriften, ergeben sich im Extremfall sog. „Wortverstümmelungen“, auch als Wortruinen oder Skelettschreibweise bezeichnet („HS“ statt „Haus“).
Zu beobachten ist auch das Auslassen von Buchstaben im Wort („Apfe“ statt „Apfel“) oder Buchstabenverdrehungen („Fabirk“ statt „Fabrik“), das Kodieren von Konsonantenverbindungen (Bot statt „Br“ot oder „Wum“ statt „Wurm“) sowie das Weglassen ganzer Wortteile „Abend“ statt „Abendhimmel“ und die häufige Nichtbeachtung bestimmter Rechtschreibregeln („Bager“ statt“ „Bagger“) oder bei Morphemen, also bedeutungstragenden Wortbausteinen oder Signalgruppen erkennen legasthene Kinder z. B. bei den Wörtern „Fahrrad“ und „fahren“ nicht das gemeinsame Stamm-Morphem „fahr“ und verschriften teilwiese ohne „h“ (Ähnlich bei Costard 2011, S. 127).
Wie bei leseschwachen Kindern auch, so ist als wesentliches Charakteristikum rechtschreibschwacher Kinder zu konstatieren, dass sich derartige Fehler im schriftlichen Bereich bei diesen ungewöhnlich lange halten im Vergleich zum Klassedurchschnitt und selbst eine hochfrequente Konfrontation mit diversen Übungen im orthografischen Bereich nur langsam Erfolge zeigen kann (Vgl. Scheerer-Neumann (2015, S. 133).
Aufgrund des fehlenden Selbstvertrauens versuchen schwache Schreiber generell, dem Produzieren von Texten aller Art möglichst aus dem Weg zu gehen, was dann wiederum negativen Einfluss auf den Aufbau eines orthografisch korrekten und stabilen Sichtwortschatzes hat als grundsätzliche Voraussetzung einer schnellen und fehlerfreien Verschriftung (Vgl. Scheerer-Neumann (2015, S. 133).
Aus der Praxis fällt uns öfter auf, dass LRS-Kinder über Kopf und Bauchschmerzen klagen und während des Förderunterrichts unverhältnismäßig oft zur Toilette gehen, um der Lese- oder Schreibsituation aus dem Weg zu gehen – übrigens ein Phänomen, das auch immer wieder von Lehrern in gemeinsamen Gesprächen bestätigt wird.
Abschießend: Lese-Rechtschreibschwäche und Rechenschwäche (Dyskalkulie) treten öfter zusammen auf, was in verschiedenen Längsschnittstudien mit einer Korrelation von 25% bis über 60% bestätigt wird (Klicpera et al. 2017, S. 142).
Im Beitrag verwendete Fachliteratur
KMK-Beschluss (2007): Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben oder im Rechnen. In: www.bvl-legasthenie.de/images/static/pdfs/KMK_120403-Lese-Rechtschreibschwaeche_KMKBeschluss2007.pdf, 04.01.2019
DGKJP (2015): Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung. Evidenz-und konsensbasierte Leitline. Berlin: AWMF
Scheerer-Neumann, G. (2015): Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie – Grundlagen, Diagnostik und Förderung. Stuttgart: Kohlhammer
Klicpera, C., Schabmann, A., Gasteiger-Klicpera, B., Schmidt, B (2017): Legasthenie – LRS, Modelle, Diagnose, Therapie und Förderung. 5. Auflage. München/Basel: Ernst Reinhardt
Schulte-Körne, G. (2010): Diagnostik und Therapie der Lese-Rechtschreib-Störung. Deutsches Ärzteblatt 107(41): 718-27; DOI: 10.3238 / arztebl.2010.0718
Reuter-Liehr, C. (2011): Lautgetreue Lese-Rechtschreibförderung, Band 1. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. Bochum: Winkler
Schründer-Lenzen, Agi (2013): Schriftspracherwerb. 4. Auflage. Wiesbaden: Springer
Costard, S. (2011): Störungen der Schriftsprache. 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart, New York: Thieme
Mayer, A. (2016): Lese-Rechtschreibstörung (LRS). München/Basel: Ernst Reinhardt