Rezension Kapitel 1-7: LOS-WISSEN – Ein Ratgeber für Eltern und Pädagogen zum Thema LRS, Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie. Die pädagogische Diagnose und Therapie der LRS

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Lerntherapeutin

Dr. Franz-Karl Blust und Gisela Bohr sind die beiden Autoren des o. g. Ratgebers für Eltern, Lehrer und Betroffene, der auf schmalen 62 Seiten und insgesamt 24 Kapitel das Thema LRS illustriert – Bohr und ihr Ehemann sind übrigens auch Gründer und Betreiber der bundesweit tätigen Franchise-Kette LOS.  Vor diesem Hintergrund wird unmittelbar evident, dass verschiedene Darstellungen und Ausführungen des Ratgebers auf der tatsächlichen Arbeitsweise bzw. dem praktizierten Konzept von LOS beruhen bzw. diese sehr stark begünstigen sollen. So demonstriert ein Blick auf die Webseite des Anbieters viele Überschneidungen und Kongruenzen. Das Unternehmen bietet ein wissenschaftlich überprüftes LRS-Konzept aus kombiniertem Einsatz von Training in einer Gruppe mit bis zu 10 Schülern sowie für jeden Schüler Einzeltraining am Computer.  

Kapitel 1: Direkt zu Beginn wird die These vertreten, dass Menschen, die viel lesen, gut schreiben und sich gewählt ausdrücken können, i. d. R. einen guten Job, hohes gesellschaftliches Ansehen und eine größere Zufriedenheit im Leben haben (Vgl. Blust, Bohr 2018, S. 8). Unserer Meinung nach wirkt diese Kausalkette übertrieben, konstruiert und es werden regelrecht Ängste bei den Eltern/Betroffenen geschürt. So kennt man aus dem öffentlichen Leben genügend positive Beispiele an Politikern, Wissenschaftlern, Buchautoren, Präsidenten, Schauspielern, Unternehmern u. v. m. mit LRS bekannt und andererseits spielen für viele qualifizierte technische/manuelle Berufe andere Fähigkeiten eine viel entscheidendere Rolle, um dort erfolgreich tätig zu sein. Auch die renomierten LRS-Forschern Klicpera, Schabmann, Gasteiger-Klicpera und Schmidt relativieren solche Aussagen und berichten, dass es den meisten Erwachsenen gelingt, trotz der weiterhin bestehenden Probleme mit der Schriftsprache (!), eine angemessene berufliche Position zu erreichen (Vgl. Klicpera et al. 2017, S. 217). Natürlich gewinnen schriftsprachliche Kompetenzen mit Blick auf die Verlagerung vieler Lebensbereiche in die digitale Welt noch stärker an Bedeutung, jedoch nimmt das Lesen im Vergleich zum Schreiben (trotz diverser Messangerdienste wie Whatsapp & Co) oder Rechnen immer noch eine dominierende Stellung ein, so dass man hier hätte schon differenzieren sollen.

Kapitel 2: Nach dem Verständnis der Autoren ist zusammenfassend LRS eine temporäre Lernschwäche noch nicht vollzogener Lernschritte induziert durch ein verlangsamtes Tempo beim Schriftspracherwerb, aber keine Krankheit oder Art von Behinderung (Vgl. Blust, Bohr 2018, S. 8). Nicht thematisiert wird die medizinische bzw. neurobiologische Sichtweise auf die Dyslexie, die in dieser eine Störung mit genetischer Heredität und Penetranz relativ präzise beschreibt und als wissenschaftlich gesichert gilt.  Ein LRS-Training bzw. eine Therapie sollte mit klar strukturierten Materialien und Methoden erfolgen und die vorausgehende Diagnostik auch qualitativ ausgerichtet sein, anstatt nur die Fehlerhäufigkeit zu fokussieren, was wir ebenfalls so sehen (ebenda, S.11).  Das umfangreiche Thema „Ursachenforschung“ wird in 5 Sätzen abgehandelt mit der Empfehlung, nicht lange nach diesen zu forschen, sondern besser zügig bei den „Pädagogen mit Expertenwissen“ mit der Förderung zu beginnen (ebenda, S. 11). Die Autoren übersehen unserer Ansicht nach, dass ein genauer Blick auf die sozialen Einflussfaktoren als eine mögliche und bedeutsame Ursache der LRS absolut sinnvoll ist, um die familiäre Interaktion (Schulbildung der Mutter, ruhiger Arbeitsplatz, Fernsehkonsum, Geschwisterposition, Deutsch als Zweitsprache usw.) einschätzen und ggf. positiv beeinflussen zu können (Vgl. Klicpera et al. 2017, S. 203).  Auch das Identifizieren möglicher spezifischer Spracherwerbsstörungen (SSES) als Mit-Ursache der LRS hat unmittelbaren Einfluss auf die dann einzuleitenden Maßnahmen der Wortschatzförderung und grammatikalisch-syntaktischer Therapie und demnach eine praktische Relevanz von nicht zu unterschätzender Bedeutung (Vgl. Mayer 2016, S. 179, Mayer 2018, S 17). Das Kapitel schließt mit einer Bestelladresse für ein eigenes Positionspapier beim hauseigenen Verlag.

Kapitel 3:  Erste Anzeichen bzw. Symptome einer Leseschwäche zeigen sich bereits im Erstleseunterricht beim phonologischen Rekodieren auf Buchstaben- und Wortebene, Wörter werden teilweise kontextual erraten anstatt zu lesen, die  Lesegeschwindigkeit ist sehr niedrig und ein sinnentnehmendes Lesen von teilweise auswendig gelernten Texten oder Sachaufgaben oft nicht vorhanden (Vgl. Blust, Bohr 2018, S. 12). Korrekterweise wird im Rahmen der Erscheinungsformen einer Rechtschreibschwäche betont, dass das Vertauschen der Grapheme „b“ und „d“ (auch Reversionsfehler genannt) kein Indikator für ein rechtschreibschwaches Kind darstellt (wir ergänzen an dieser Stelle noch die Gefahr des Vertauschens von „m“ versus „w“ bzw. „ei“ versus „ie“);  wesentliche  Charakteristika der LRS lassen sich oft durch eine   differente Schreibweise eines einzigen Wortes beschreiben und es lässt sich eine deutlich höhere Fehleranzahl im Vergleich zum Klassenschnitt feststellen (ebenda, S. 13). Das Kapitel endet mit einem Hinweis auf das hausintern eingesetzte Diagnose-Tool von Professor May, das auch extern käuflich erworben werden kann.  

Kapitel 4 ist ein Plädoyer für die heutzutage hohe Bedeutung von Lesen und Schreiben für Schule und Beruf und zur Sicherstellung persönlicher Lebenschancen und des eigenen Platzes in unserer Gesellschaft  (ebenda, S. 14). Wir finden, dass die sprachlichen Kompetenzen verklärt werden und durch den möglichen Notenschutz zwar das Problem der Teilleistungsschwäche nicht behoben, aber für den Betroffenen deutlich abgemildert wird, sodass die Benotung der Rechtschreibung oder des Lesens entfällt. Und natürlich ist die Nutzung des Internets auch mit fehlerhafter Orthographie möglich, da die „künstliche Intelligenz“ im Hintergrund aller einschlägigen Suchmaschinen Vorschläge unterbreitet für die korrekte Schreibweise des gesuchten Begriffs und auch diverse Autokorrekturprogramme in den gängigen Textverarbeitungsprogrammen als Schreibhilfe integriert sind und auf Fehler mittels Unterstreichung des entsprechenden Wortes hinweisen, das dann separat in Online-Rechtschreibkorrekturprogrammen oder deren Hardcopy nachgeschaut werden kann. Vielfach spielt im Privatbereich eine rechtschreiblich korrekte Verschriftung im Rahmen der Interaktion mittels sozialer Medien eine deutlich untergeordnete Rolle (man denke z. B. an die Verortung der  vielen Abkürzungen [HDL= habe dich lieb], von Smilies oder sonstigen Symbolen als Substitut für Wörter oder ganze Aussagen).    

Lerntherapie Siegen
Lerntherapie Siegen

Kapitel 5 rät zu schnellem Handeln, anstatt „Heilen durch Aussitzen“. Richtigerweise besteht die große Gefahr, dass sich der Abstand zu den anderen Schülern und den Lerninhalten der jeweiligen Klasse immer weiter vergrößert, wenn nicht mit einer für das Kind adäquate Förderung begonnen wird. Schulische Förderangebote, sofern diese überhaupt vorhanden sind, finden oft in Gruppen mit 20 oder 30 Schülern und ein bis zwei Förderkräften statt, sodass systemisch bedingt auch hier nicht individuell auf jeden einzelnen Schüler eingegangen werden kann. Den „verbalen Angriff“ gegenüber Lehrern und anderen Fachleuten (Ärzten?) sehen wir nicht so einseitig, denn es gibt durchaus Lehrer, die sich mit der Problematik eines gestörten Schriftspracherwerbs gut auskennen und nicht mit den im Text genannten üblichen „Durchhalteparolen“ argumentieren (wächst sich aus, vergeht mit der Zeit) und die auch wissen, dass diese Kinder alles andere als faul oder dumm sind! Fraglich ist nur, ob diese Lehrer von dem Konzept der LOS überzeugt sind, denn nicht wenige raten beim Thema „Nachhilfe“ schon zu einem Einzelunterricht (ein Lehrer und nur ein Schüler) – und erst Recht dann zu einer Einzelförderung im Einzelsetting bei möglichen LRS-Problemen. Wir raten Eltern, neben dem Lehrer auch die Schulberatungsstelle zu kontaktieren, die nicht nur eine kompetente Diagnostik, sondern teilweise auch eine jeweilige Förderung vor Ort durchführen kann und dies in Kleingruppen. Dass das Kapitel mit einer Beratungshotline-Nummer der Firma LOS abschließt, ist selbsterklärend und befördert die Firma quasi zu einem Allheilmittel.

Kapitel 6 beschreibt eine hilfreiche Förderung, wir nennen es eine wirksame. Erneut wird eine ausschließlich symptomorientierte Förderung angepriesen, die unmittelbar am Prozess des Lese- und Schreiberwerbs anknüpfen und basale, z.B. visuelle, motorische oder auditive Trainings kategorisch ablehnen. Diese Meinung teilen wir gemeinsam mit den  meisten Wissenschaftlern, da alle anderen Fördermaßnahmen in ihrer Wirksamkeit nicht bewiesen sind oder in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit LRS stehen. Das Buchempfehlung können wir ebenfalls nur teilen, ein sehr gutes Werk von Professor Schneider, übrigens der von LOS in Auftrag gegebenen Wirksamkeitsstudie aus 2017.

Kapitel 7 beschreibt die konkrete Methode, so zusagen den Ablauf der Förderung bei LOS. „…in homogenen Kleingruppen…mit maximal 10 Teilnehmern…“ (Blust, Bohr 2018, S. 20): Wir wissen, dass es unmöglich ist, homogene (einheitlich zusammengesetzte) Gruppen zu bilden, da gerade beim gestörten Schriftspracherwerb die Bandbreite an der Ausprägung der Schwierigkeiten extrem groß ist, so dass unbedingt individuell gefördert werden muss, was in einer Gruppe von bis zu 10 Schülern und circa 45 Minuten Förderdauer uns als unmöglich erscheint! Und selbst wenn es gelänge, Schüler mit ähnlichen Schwierigkeiten quasi zu „bündeln“, so wird es eine planerische Unmöglichkeit sein, diese fest an einem Tag und zur selben Uhrzeit in der Gruppe zu versammeln, da viele Schüler von ganz unterschiedlichen privaten Terminen dominiert werden (Fußball, Tanzen, Konfi-Unterricht, Fahrschule u.v.m.). Auch, dass durch diese „Kleingruppe“ eine Schulklasse und das Lernen in dieser simuliert wird, ist aus unserer Sicht ein Scheinargument, denn im Vordergrund einer effizienten Fördermaßnahme, Training oder Therapie steht die Verbesserung der individuellen Leistung des Schülers, die wir in einer so großen Gruppe und auch eventuell vor dem Hintergrund einen möglichen ADHS-Problematik beim Schüler als unmöglich erachten (ebenda, S. 21). Weiterhin wird behauptet, dass der Schüler zwei Mal pro Woche jeweils 90 Minuten zur Förderung kommen muss (ebenda, S. 21), was jedoch für einige LOS-Standorte aufgeweicht wurde, denn dort ist eine einmalige Teilnahme oder sogar eine reine Online-Präsenz möglich – spielt hier vielleicht also primär der wirtschaftliche Faktor eine Rolle? Was die Ausbildung der LOS-Pädagogen mit Expertenstatus anbelangt, so sollen alle über ein Pädagogikstudium und eine spezielle LRS-Ausbildung verfügen (ebenda, S. 21). Es gibt Standorte, bei denen Kindergärtnerinnen ohne irgendeinen akademischen Abschluss als Pädagogen gearbeitet haben und ein Blick auf die diversen Stellenangebote der Firma öffnet auch für Nicht-Akademiker solche Stellen.

Im Beitrag verwendete Fachliteratur

Blust, F.-K., Borr, G.: LOS-Wissen (2018): Ein Ratgeber für Eltern und Pädagogen zum Thema LRS, Lese-Rechtschreib-Schwäche und Legasthenie, Band 1., 1. Auflage, Saarbrücken: trainmedia GmbH    

Mayer, A. (2016): Lese-Rechtschreibstörungen (LRS). München/Basel: Ernst Reinhardt

Klicpera, C., Schabmann, A., Gasteiger-Klicpera, B., Schmidt, B (2017): Legasthenie – LRS, Modelle, Diagnose, Therapie und Förderung. 5. Auflage. München/Basel: Ernst Reinhardt

Mayer, A. (2018): Gezielte Förderung bei Lese- und Rechtschreibstörungen. 3., überarbeitete Auflage. München/Basel: Ernst Reinhardt

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