Nach Einschätzung der Lehrerverbände sind bis heute geschätzte 400 bis 600 Unterrichtsstunden ausgefallen. Diese Ausfälle und die dadurch entstandenen Lernlücken sollen Schülerinnen und Schüler nun mithilfe spezieller Nachhilfe-Programme kompensieren – seit Neuestem und hier in NRW mittels sog. Bildungsgutscheine, die ausgewählten Schülern dann Nachhilfeunterricht in Kleingruppe von insgesamt 10 x 90 Minuten gewähren. Wir möchten dieses Programm kritisch beleuchten und zwar einerseits basierend auf den bestehenden Bedenken von Bildungsexperten und anderseits vor dem Hintergrund unserer eigenen praktischen Erfahrungen.
Auch fast 9 Monate nach dem Beginn des bundesweit aufgelegten Corona-Aufholprogramms mit von den Schulen organisierten und in diesen stattfindenden Nachhilfekursen zieht die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft ein eher bescheidenes bzw. kritisches Fazit: So erhalten die entsprechenden GEW-Landesverbände größtenteils das Feedback ihrer Lehrkräfte, dass die Maßnahmen leider nicht so fruchten, wie dies ursprünglich geplant sei, wobei eine Schwierigkeit darin bestehe, dass jedes Bundesland teilweise eigene Maßnahmen umsetzen würde.
Im Einzelnen liegt das daran, so die GEW-Vorsitzende, dass viele der Angebote leider nicht diejenigen Kinder erreichen würden, die jedoch grundsätzlich die meiste Unterstützung bräuchten, sondern oftmals nur die Eltern, die sich auch intensiv um das Thema kümmern würden.
Programm von schulischen Ressourcen abhängig
Etwas zurückhaltender formuliert es der Chef des Verbandes Bildung und Erziehung, man könne die Wirkung noch nicht abschließend beurteilen, aber die Wirkung des Nachholprogramms insgesamt immens dadurch determiniert wird, wie sehr jede einzelne Schule generell über Ressourcen verfüge, sich jedem einzelnen Schüler bzw. Schülerin auch tatsächlich zu widmen. So würden sich laut des Lehrerverbandspräsident schon ein Großteil der Schulen an den Aufholfördermaßnahmen beteiligen, allerdings gäbe es auch Schulen, die aufgrund einer stark angespannten Personaldecke nicht in der Lage ist, das Programm anzubieten.
Diese Aussage kann von unserer Seite und zumindest für die hiesige Schullandschaft durchaus bestätigt werden, denn hier war die Resonanz einiger größerer Schulen entweder so, dass das Programm lediglich 2 Wochen in den Sommerferien oder 2 Wochen in den Herbstferien angeboten wurde, da z. B. das Gesamtschulkonzept zusätzliche zeitliche Kapazitäten innerhalb der Schulzeit nicht zulassen würde und deshalb auf die Ferien zurückgegriffen werden müsse.
Andere Schulen verzichteten auch ganz auf das Programm, da aufgrund der sehr stressigen Alltagsbewältigung aller Lehrerinnen und Lehrer mit einem Wechseln an Präsenz- und Distanzunterricht, dem zusätzlichen Aufwand an Testmaßnahmen usw. dem Personal die nötige Erholung und Ruhe gegönnt werden müsse. Überdies muss auch immer berücksichtigt werden, dass die Teilnahme an dem Programm generell auf Freiwilligkeit der einzelnen Schüler beruht, sodass es Kinder mit großen Lernlücken gibt, die jedoch nicht partizipieren.
Mittlerweile findet das Mitte letzten Jahres beschlossene Programm „Aufholen nach Corona für Kinder und Jugendliche“, bei dem die innerschulischen Maßnahmen zur Lernförderung von den Schulen ausgewählter Schülerinnen und Schüler von bestimmten Vereinen, Volkshochschulen oder im Ruhestand befindlichen Lehrerinnen und Lehrern, aber auch von Lehramtsstudierenden sowie kommerziellen Nachhilfeinstituten durchgeführt wurde, eine zusätzliche Variante in den bereits oben andiskutierten Bildungsgutscheinen.
Hierbei ist es zunächst Aufgabe der Schule, einen Schülerkreis zu identifizieren, der in den Genuss dieser Lerngutscheine kommt. Leider liegen uns keine genaueren Angaben vor, wie genau dies geschieht, aber man kann davon ausgehen, dass die Lehrerinnen und Lehrer nicht nur die jeweiligen Zeugnisnoten des Schul-Halbjahres 2021/2022 haben einfließen lassen, sondern auch durchaus subjektiv geprägte Lehrervorstellungen über den Schüler oder die Schülerin mitentscheidend gewesen sein dürften. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob im Rahmen einer Objektivierbarkeit nicht zusätzlich ein Schulleistungstest hätte durchgeführt werden können, um eine genauere Bestimmung des aktuellen Lernstandes jeden Schülers zu fundieren?
Ein anderer Punkt ist der des Verteilschlüssels der Gutschein an die einzelnen Schulen, denn 50% der Bildungsgutscheine werden von den Schulträgern alleine aufgrund der Schülerzahl berechnet. Fraglich ist, ob an großen Schulen so viele coronabedingt abgehängte Schüler mehr vertreten sind, als beispielsweise an einer Hauptschule mit sehr vielen Kindern mit Migrationshintergrund. Laut Gesetz dürfen Schulen im konkreten Bedarfsfall hier jedoch beim Schulträger nachjustieren und um weitere Gutscheine bitten.
Im Detail sieht die Förderung vor, dass die selektierten Schüler dann in Kleingruppen von bis zu 6 Schülern 10 Wochen jeweils nur ein einziges Mal die Woche 90 Minuten Unterricht erhalten. Schon hierbei bekommen Kenner der Szene enorme Bauchschmerzen bis hin zur völligen Verständnislosigkeit: Wie sollen sog. zertifizierte Nachhilfeinstitute generell ein Lern-Volumen von circa 1,5 Jahren in 10 x 90 Minuten auch nur Ansatzweise kompensieren? Dies ist aus unserer Sicht völlig unmöglich, denn die meisten Lernschwierigkeiten und Defizite sind nicht im Fach Religion oder Sport entstanden, sondern in den Hauptfächern Deutsch, Mathematik oder Englisch, also bei Fächern, die die Kinder 2 oder 3 x pro Woche in der Schule begleiten.
Im Rahmen unserer Arbeit stellen wir darüber hinaus oft fest, dass Defizite oder subjektive Fehlvorstellungen der Schüler teilweise Jahre zurückliegen und eine enorme Zeit vergeht, diese erst einmal nachzuarbeiten bzw. den generellen Anschluss an den aktuellen Schulstoff zu gewährleisten. Nach unserer Meinung sind die wirklich lernschwachen Kinder diejenigen, die schon lange den Anschluss verpasst haben und im Prinzip eine tägliche individuelle Förderung benötigen, um eine realistische Chance zu erhalten, nicht verstandenen Unterrichtsstoff einigermaßen schnell und gut aufholen zu können.
Fazit: Mit 10 x 90 Minuten ist fast nichts erreicht!
Als weiteren wichtigen Kritikpunkt sehen wir neben des minimalen Zeitkontingentes pro gefördertem Schüler mit nur 10 x 90 Minuten das Thema und die Vorgabe der Landesregierung, die Förderung in Gruppen mit bis zu 6 Schülern durchzuführen. Geht es um sehr schwache Schüler, und um die geht es hier insbesondere, aber auch Schülerinnen und Schüler, für die alleine die Deutsche Sprache noch ein Buch mit 7 Siegeln darstellt, wird unmittelbar ersichtlich, dass solche Kinder eine 1:1 Einzelförderung benötigen, um bei ihren massiven Problemen die volle Unterstützung und Aufmerksamkeit des Nachhilfelehrers bzw. der Nachhilfelehrerin zu erhalten.
Solchen Schülern, die in einer Gruppe von 6 Personen zwar individuell betreut werden, verbleibt statistisch gesehen exakt 15 Minuten Zeit, um mit der Lehrkraft ein bestimmtes Thema zu besprechen, oder sagen wir besser: anzudiskutieren. D. h. aus den 90 Minuten pro Woche werden im Schnitt 15 Minuten pro Woche, da der Nachhilfedozent ja allen seinen 6 Schülern gerecht werden muss und sich um alle gleichsam kümmern muss. Wie soll in dieser kurzen Zeit der Lehrer auch nur ansatzweise beurteilen können, was genau der Schüler nicht verstanden hat.
Dies soll an einem konkreten Beispiel deutlich gemacht werden: Die Schule bzw. der Lehrer, der den Lerngutschein ausgefüllt hat, macht auf diesem eine konkrete Vorgabe des zu bearbeitenden Themas, also zum Beispiel die Bruchrechnung. Jeder weiß, dass die Bruchrechnung ein mächtiges Thema ist, bei dem man vieles nicht oder nicht richtig verstehen kann. Teilweise gehen die Verständnisschwierigkeiten sogar zurück in die Grundschulzeit, denn dort wird im Rahmen der Erarbeitung der sog. Grundvorstellungen die Division in Verteilen und Aufteilen bereits umfangreich erklärt und wer die Division nicht verstanden hat, wird die Bruchrechnung auch nicht verstehen, denn diese baut natürlich auf ihr auf.
Das genannte Beispiel macht deutlich, wie unmöglich es aus unsere Sicht ist, im Rahmen des Programms der Bildungsgutscheine echte Verbesserungen bei lernschwachen Schülern zu generieren. Und jedem sollte klar sein, dass der Erfolg von Nachhilfe nicht in einer kurzfristigen „ad hoc“ Maßnahme bestehen sollte, sondern ein je nach Stärke der Defizite teilweise auf viele Jahre angelegter und ständig den Schüler oder die Schülerin begleitender Prozess sein sollte so, wie ihn andere Länder schon seit Jahren und mit sehr positiven Ergebnissen vormachen, wie z. B. Skandinavien.
Auch nach Ansicht der schleswig-holsteinischen Bildungsministerin Prien, übrigens die aktuelle Präsidentin der Kultusministerkonferenz, und vieler hochkarätiger Bildungsforscher weltweit, wird die Bewältigung der Corona-Folgen für viele Schüler Jahre dauern. Bei einem Großteil von ihnen hat Corona und die damit verbundenen Schulschließungen nicht nur zu starken Lerndefiziten, sondern oftmals auch zu psychischen oder psychosozialen Problemen geführt und aus diesem Grund wird das Thema des Aufholens verpasster Lerninhalte womöglich zu einer bildungspolitischen und psychotherapeutischen Daueraufgabe.
Fazit: 6 sind 5 zuviel!
Abschließend: Wir hätten begrüßt, wenn die Millionen an Steuergeldern, die die Politik in die Bildungsgutscheine und vorgeschaltete Corona-Aufholprogramme investiert hat, lieber in die Festanstellung neuer Lehrerinnen und Lehrer oder Lerntherapeuten gesteckt hätte, um die Förderung von Schülerinnen und Schülern dorthin zu transportieren, wo sie tatsächlich auch hingehört, nämlich in die Schulen vor Ort! Gut gedacht ist nicht immer auch gut gemacht, wie sich an dem o. g. Thema wieder einmal ganz einfach demonstrieren lässt.